Leadership & Karriere Wahlkampf in Europa: Wenn Marketing Parteiprogramme ersetzt

Wahlkampf in Europa: Wenn Marketing Parteiprogramme ersetzt

Der Erfolg von Sebastian Kurz in Österreich zeigt: Mit digitalen Marketingstrategien führen Agenturen den Wahlkampf in die Zukunft. Parteien inszenieren sich als Bewegungen. Neben wenigen Ausnahmen wie Emmanuel Macron hat das vor allem die europäische Rechte verstanden.

Als der Wahlsieg Gewissheit ist, betritt Sebastian Kurz unter frenetischem Jubel eine Bühne in Wien. Fast etwas schüchtern und bubenhaft sieht er aus, obwohl man kaum glauben mag, dass er jemals etwas anderes getragen hat, als diesen dunkelblauen, eng taillierten Anzug. Obwohl er vielleicht schon als Schulkind ein Pomadefässchen im Badezimmerschrank hatte. Doch er scheint an diesem Wahlabend und nach diesem Ergebnis etwas überwältigt. Nachdem Kurz mit von rosig-erregten Wangen umflanktem Lächeln in die Menge winkt und sich verbeugt, bedankt er sich schließlich. Danke, danke, immer wieder danke und liebe Freunde danke. Sebastian Kurz will selbst in den wenigen Minuten auf der Bühne eine warme Beziehung zu seinen freudentaumelnden Unterstützern aufbauen. So sagt er darüber hinaus nicht mehr viel, bedankt sich immer wieder bei seinen „lieben Freunden“ und ist, nachdem er kurz einen neuen politischen Stil in Österreich anteasert, nach knapp fünf Minuten wieder verschwunden.

Sebastian Kurz, der wohl nächste Bundeskanzler Österreichs, hat in der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) einen kometenhaften Aufstieg hingelegt:  Mit 25 wurde er Staatssekretär für Integration, das war 2011. Zwei Jahre später gehörte er bereits der Regierung als Außenminister an. Nun hat der erst im Juli zum Bundesparteiobmann (Vorsitzender) gewählte Kurz die Nationalratswahl am 15. Oktober mit 31,5 Prozent gewonnen. Besieht man sich die Umfragewerte, die die ÖVP Anfang des Jahres noch auf dem dritten Platz hinter der rechtspopulistischen FPÖ und der SPÖ sah, ist das ein bemerkenswerter Vorgang, der neben den politischen Umwälzungen in Österreich auch mit der Art und Weise zu tun hat, wie Politiker wie Sebastian Kurz gelernt haben, Wahlkampf-Kampagnen zu führen.

Kampagnen-Übervater Obama

Gut eine Woche später ist Philipp Maderthaner die Freude über Kurz‘ Sieg immer noch anzumerken. Er kennt und begleitet Sebastian Kurz bereits seit Jahren und hat seinen Weg, wie er sagt, „aus nächster Nähe mitverfolgen dürfen“. Vor allem aber beschäftigt er sich täglich mit der Frage, wie man nachhaltig Beziehungen zu Menschen aufbauen kann. Dieses Wissen stellt er dann Firmen zur Verfügung, die sich mehr Kundenbindung wünschen. Doch reines Marketing wäre bei Maderthaner zu kurz gedacht. Was er tut, tut er „für Brands, für Non-Profits, für NGOs.“ Für Organisationen mit „starker Mission“, wie er das nennt. Die brauche es nämlich heute, um Menschen zu begeistern. Bei Sebastian Kurz spürte Philipp Maderthaner so eine Mission, „ein starkes ‚Warum‘, ein starkes Motiv“. Für den Chef der Wiener Kommunikationsagentur Campaigning Bureau ist der designierte Österreichische Bundeskanzler eine „politische Ausnahmeerscheinung“, für die er aus Überzeugung arbeitet. Er und sein Team stehen hinter der digitalen Kurz-Kampagne und sind damit maßgeblich für den Erfolg des erst 31-jährigen Wieners mitverantwortlich.

Kampagnen wie diese sind in Europa noch eine Seltenheit. Zu stark sind die wahlkampfpolitischen Traditionen in den verschiedenen Ländern verhaftet. So wäre ein schwerpunktmäßig anderer als der traditionelle Plakatwahlkampf in Deutschland heute noch kaum vorstellbar. Nur die AfD schien hier früher als andere verstanden zu haben, welches Potenzial sich über Social Media binden und entfalten lässt: Egal ob gerade Wahlkampf ist oder nicht, sie ist dort ständig publikumswirksam unterwegs. Und knallt alles rein, was sich kurz – und oft bis zur Desinformation verkürzt – auf kleine blaue Bildchen pressen lässt, die sich leicht teilen lassen. Ergebnis: mehr Follower als all die anderen Parteien. Dabei gab es lange vor ihrer Gründung genügend Indizien dafür, dass sich die Art und Weise Wahlkampf zu machen ändern wird und die Parteien über kurz oder lang darauf reagieren müssen.

Gut fünf Jahre vor Gründung der AfD, am 4. November 2008, erhielten die Wähler und Unterstützer der US-Demokraten eine Nachricht. Über E-Mail, SMS, Twitter, Facebook. Unterzeichnet war die Nachricht mit Barack. Kurz nachdem sie verschickt war, hielt Barack Obama seine Siegesrede in Chicago. Er wurde gerade zum neuen US-Präsidenten gewählt. Seine Kampagne war etwas noch nie Dagewesenes, der erste Wahlkampf, der schwerpunktmäßig im Internet geführt wurde, auf Social-Media-Plattformen, die damals noch neu waren oder gerade erst gegründet. Noch wichtiger aber, als die dort angelegten Profile nur als weiteren Kanal für Output zu sehen, war die Erkenntnis, dass der potenzielle Wähler nun nicht mehr nur der Empfänger von Informationen war. Er konnte jetzt selbst zum Sender gemacht werden. Obamas Botschaft an diesem Tag war: „All of this happened because of you“. Diese Nachricht war vielleicht noch nie so wahr wie an diesem Tag, denn mit einem Heer aus Datenspezialisten, Programmierern und der Involvierung von Kommunikationsagenturen nutzte die Obama-Kampagne dieses Engagement-Potenzial ihrer Supporter.

Die Grenzen zwischen Marketing und politischen Kampagnen

Zurück in das Europa des Jahres 2017: Philipp Maderthaner hat mit seinem Campaigning Bureau diesen Ansatz des digitalen Campaignings für Sebastian Kurz und für Österreich adaptiert. Die Aktivierung des passiven Followers. Darum geht es. Darum, „Menschen, die Affinität haben zur Bewegung und zur Kampagne tiefer zu involvieren und ihnen immer mehr Werkzeuge in die Hand zu geben, um selber einen aktiven Beitrag zu leisten.“ Customer Engagement also, in diesem Fall könnte man es wohl Supporter Engagement nennen. Maderthaner nennt das „Grassroot-Ansatz“, „Bottom-up-Ansatz“. Da sind sie, die Buzzwords, die andeuten, dass die Grenzen zwischen Marketing und politischen Kampagnen mehr und mehr zerfließen. „Vor allem in dem Bereich, wo wir Unternehmer mit starker Mission vorfinden, ist natürlich Campaigning der Ansatz schlechthin, um eine Beziehung zu den Menschen da draußen aufzubauen, die meine Vision teilen, und die am Ende auch zu Kunden zu machen. Nichts anderes ist das eigentlich im politischen Campaigning.“

Das Ergebnis ist „Kurz2017“. Die Kampagne ist digital und datengestützt, höchst professionell und ziemlich smart durchdacht: Die Agentur hat eine Software entwickelt, die Kunden verschiedene Tools zur Verfügung stellt, um wiederum deren User zum Mitmachen zu animieren. Eine Art Page-Generator, mit der sich leicht Abstimmungen oder Veranstaltungen erstellen lassen und außerdem User Generated Content zulässt. All das ist gekoppelt an eine lernende Datenbank und E-Mail-Listen. Mit aktivierenden Slogans sollten nun für Kurz Interessierte und Sympathisanten animiert werden, Videos von sich auf die Plattform zu laden, in denen sie ihre Unterstützung bekundeten. Eine „eigene Kampagne für Sebastian Kurz“ also. Über eine App lässt sich so innerhalb weniger Minuten ein Video erstellen, das mit anderen vernetzten Usern geteilt werden kann. Auf dem Youtube Channel von Sebastian Kurz wurden regelmäßig Imagefilme und Infohäppchen geteilt, sogar auf Alexa war Kurz präsent. Der inhaltliche Narrativ ist konsistent: Sebastian Kurz, der Erneuerer. Kurz, Anführer der „Bewegung“.

Schlummerndes Potenzial

Immer wieder taucht dieses Wort auf, „Bewegung“. Auch Philipp Maderthaner nutzt es oft. Gekoppelt an seine digitalen Tools ist das ein Narrativ, der auf Social-Media-Kanälen große Wirkungsmächtigkeit entfalten kann, und den auch Brands wie zum Beispiel Adidas nutzen, um Usern das Gefühl zu vermitteln, dass sie aktiv Teil von etwas größerem sein können. Kaufe aus Ozean-Müll produzierte Adidas-Treter und rette die Welt. Wähle Sebastian Kurz und verändere Österreich. Ein Klick to make a difference. Es ist die Inszenierung einer Bewegung, an deren Spitze Organisationen oder Unternehmen sich dann leicht setzen können. Kampagnenchef Maderthaner sieht das, zumindest im Fall Kurz, anders. Für ihn ist diese Bewegung etwas, das seit 2013 sukzessive und organisch gewachsen ist: „Ich würde nicht sagen, dass das künstlich ist, ich glaube, dass es da draußen schlummerndes Potential für Bewegungen gibt und das wird eben dann aktiviert, wenn jemand aufsteht und sagt, ich bin bereit, diese Bewegung für diese Ziele anzuführen.“ Doch gibt er auch zu, dass Kurz selbst es war, der damals mit seiner Unterstützung begonnen hatte, diese Bewegung „bei Null aufzubauen“.

Jedenfalls ist er nicht der erste in Europa, der mit diesem Ansatz erfolgreich war. Emmanuel Macron gründete im April 2016, erst kurz vor seiner erfolgreichen Präsidentschaftskandidatur die Partei En Marche, die sich dezidiert als soziale Bewegung versteht. So verzichtet sie etwa auf klassische Parteimitgliedschaften, es genügt das Hinterlassen von persönlichen Daten und die Zustimmung zur En-Marche-Charta. Seine Kampagne mobilisierte Tausende Freiwillige, die von Tür zu Tür gingen und mit den Menschen sprachen, das Gefühl einer tatsächlichen Bewegung wuchs. In Deutschland will die „Demokratie in Bewegung“ alte Parteistrukturen überkommen. Auch sie verzichtet rhetorisch wie strukturell darauf, sich an den alten Parteistrukturen zu orientieren. Niemand muss Mitglied sein, um dort aktiv zu werden. Interessierte, die sich einbringen, sind dort sogenannte „Beweger“.

Im Unterschied zur „Demokratie in Bewegung“, deren Antritt an einer Petition auf change.org hing, speisen sich all die anderen, die sich als Bewegung verstehen, tatsächlich aus dem Establishment mit dem Anspruch, sich von innen heraus komplett zu erneuern. Das gilt für Sebastian Kurz ebenso wie für Emmanuel Macron, beide haben in sehr alten Parteien bereits eine Karriere hinter sich. Das gilt aber auch für Marine Le Pen, die von ihrem Vater den 1972 gegründeten, rechtsextremen Front National übernahm und ihn zu einer Partei umbaute, die in den letzten Parlamentswahlen von gut 11 Millionen Franzosen gewählt wurde. AfD-Vorstand Alexander Gauland mag nun für eine junge „Bewegungspartei“ im Bundestag sitzen, doch auch er blickt auf eine mehr als 40-jährige Karriere in der CDU zurück.

Fancy Funktionskleidung und alpine Kulisse

Dabei bleibt die Kampagne inhaltlich vage – wenn er auch in Reden und Talkshows an populistische Themen anknüpft – um Potenzial in möglichst vielen Wählergruppen abzugreifen. Nicht nur hat er sein vollständiges Wahlprogramm erst drei Wochen vor der Wahl vorgestellt, auch seine Kampagne will sich nicht unbedingt festlegen. Sein Spot, der ihn in fancy Funktionskleidung beim Bergsteigen in alpiner Kulisse zeigt, könnte im hippen Wiener Freihausviertel ebenso gut ankommen, wie es auch jenes diffuse Heimatgefühl vermittelt, das ihn nach rechts hin genauso anknüpffähig macht.

Es sind Bewegungen von oben. Cleveres Marketing hat zwei Dinge zusammengebracht, die qua Definition nicht zusammengehören können. Doch es funktioniert. Es funktionierte bei Obama, es funktionierte bei Bernie Sanders, bei Macron und bei Sebastian Kurz. Es funktionierte aber auch bei Donald Trump, beim Front National und bei der AfD. Diese müssen sich zurecht die Kritik gefallen lassen, dass bestimmte Teile ihrer Bewegung in ihrem Namen Dinge tun, die nicht mehr auf dem Boden demokratischer Verfasstheit stattfinden. Zu nennen ist etwa der gewalttätige Neonazi-Aufmarsch in Charlottesville, deren Teilnehmer sich teilweise darauf beriefen, Donald Trumps Versprechungen zu erfüllen. Man darf also vor diesem und auch vor dem historischen Hintergrund Europas zumindest diese eine Frage stellen: Wie lässt sich eine von oben mobilisierte und bewegte Öffentlichkeit im Notfall wieder demobilisieren?

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